für Meereskunde
Interview mit Dirk NotzIPCC-Bericht: Ein Blick hinter die Kulissen
10. November 2021, von Céline Gieße

Foto: IPCC
Im August wurde der erste Teil des sechsten Sachstandsberichts des Weltklimarats (IPCC, Intergovernmental Panel on Climate Change) veröffentlicht, der den naturwissenschaftlichen Kenntnisstand zum Klimawandel zusammenfasst. Einer der Leitautoren des Berichts ist Dirk Notz, Professor für Meereis am Institut für Meereskunde. Er ist Mitautor des Kapitels zum Ozean, der Kryosphäre und Meeresspiegeländerungen und hat außerdem an der Zusammenfassung für politische Entscheidungsträger mitgewirkt. Im Interview sprechen wir über den aufwendigen und komplexen Prozess der Berichterstellung, über die Wichtigkeit des IPCC-Berichts, auch im Hinblick auf die aktuell laufende UN-Klimakonferenz (COP26) in Glasgow, und Dirk Notz teilt mit uns, was er persönlich aus der Arbeit am IPCC-Bericht mitgenommen hat.
Céline Gieße: Du warst beim aktuellen IPCC-Bericht zum ersten Mal als Leitautor mit dabei. War diese Erfahrung so, wie Du es vorher erwartet hast, oder gab es etwas, was Dich überrascht hat?
Dirk Notz: Beides ein bisschen. Natürlich war es anders, als ich erwartet hatte, weil Corona uns dazwischen gefunkt hat. Ich war auch etwas überrascht davon, wie viel Arbeit es dann doch gekostet hat. Kolleginnen und Kollegen hatten einem zwar vorher gesagt, wie intensiv es werden würde, aber dass man wirklich monate- und teilweise jahrelang jede Woche ein oder zwei Telekonferenzen hatte, ständig darüber nachgedacht hat, in manchen Perioden jede freie Minute dafür eingesetzt hat, das hat mich doch überrascht. Sozusagen wertneutral überrascht. Sehr positiv überrascht hat mich, wie es gelingen konnte, die über 200 Autor:innen sich wirklich als Team fühlen zu lassen, gerade auch als es darum ging mit den politischen Entscheidungsträger:innen zu diskutieren. Wie man es da geschafft hat, dass aus der Wissenschaft mit einer Stimme gesprochen wurde, das fand ich sehr beeindruckend.
CG: Die Erstellung des IPCC-Berichts ist ja ein riesiges Projekt. Allein am ersten Teilbericht zu den naturwissenschaftlichen Grundlagen waren über 200 Autor:innen beteiligt. Der Bericht umfasst knapp 4000 Seiten. Wie läuft der Prozess der Berichterstellung ab – von dem Vorhaben, einen Bericht zu schreiben, bis zur fertigen Veröffentlichung?
DN: Der erste wichtige Schritt ist, dass die Regierungen beim IPCC die Wissenschaft beauftragen, einen solchen Bericht anzufertigen. Dann wird zusammen mit den Regierungen geschaut, welchen Inhalt man sich dafür wünscht. Bei diesem sogenannten „Scoping“-Treffen werden die einzelnen Kapitel mit groben Inhalten festgelegt. Danach werden für diese einzelnen Kapitel Autor:innen-Teams zusammengestellt. Dabei wird in einem relativ komplexen Prozess geschaut, dass man ein ausgewogenes Verhältnis von neuen und erfahrenen Autor:innen hat, dass man eine breite regionale Abdeckung erreicht, dass man die Expertise entsprechend abdeckt etc. Das Kapitel, dem man zugeordnet ist, ist dann beim Schreiben des Berichts sozusagen die engste Heimat und man verortet sich in erster Linie mit den anderen zehn bis zwanzig Autor:innen des eigenen Kapitels. Des Weiteren gibt es mehrere Treffen, vier Stück insgesamt, bei denen ein Schwerpunkt auch die Kommunikation mit den anderen Kapiteln ist. Dort hat man dann auch kapitelübergreifende Arbeitsgruppen, in denen man z.B. schaut, welche Themen in welchen Kapiteln vielleicht noch nicht so gut abgedeckt sind, was andere Kapitel beitragen können etc.
CG: Wie lange hat der Prozess dann insgesamt gedauert?
DN: 2018 haben wir uns das erste Mal getroffen. Und dann gab es verschiedene Deadlines, wann Berichtsiterationen fertig sein sollten. Das heißt, es war ein sehr wellenförmiges Arbeiten mit intensiven Phasen und zwischendrin aber auch Wochen, in denen ein bisschen weniger passierte, weil der Text zum Beispiel begutachtet wurde. Insgesamt waren es drei Jahre.
CG: Der Bericht fasst ja den aktuellen Kenntnisstand zum Klimawandel zusammen. Die Ergebnisse werden dabei immer zusammen mit Vertrauens- und Wahrscheinlichkeits-Aussagen kommuniziert. Vielleicht kannst Du nochmal erklären, was der Unterschied ist und wie man zu diesen Aussagen kommt?
DN: Genau. Das ist für mich auch die ganz große Stärke vom IPCC-Bericht. So einen organisierten Prozess, bei dem wir alle sechs bis sieben Jahre versuchen, einmal für uns als Wissenschaftsgemeinschaft festzulegen, mit welcher Zuverlässigkeit wir welche Ergebnisse der letzten Jahre kennen, gibt es in keiner anderen Wissenschaftsdisziplin. Insofern ist der Bericht auch nicht einfach ein „Review“ von dem, was passiert ist, sondern wirklich eine Einordnung von der Robustheit unseres Wissens. Dafür gibt es zwei verschiedene Instrumente. Zum Einen die Zuverlässigkeitssprache, mit der wir einordnen können, ob es zum Beispiel verschiedene Methoden gibt, die alle zum gleichen Ergebnis führen, oder ob es nur eine sehr limitierte Menge an Indizien für ein bestimmtes Ergebnis gibt. Daraus erwächst dann erstmal die Zuverlässigkeit einer bestimmten Aussage. Und dann, wenn wir Aussagen quantifizieren können, gibt es noch die Wahrscheinlichkeitsskala, bei der wir sagen, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein bestimmtes Ereignis möglicherweise eintritt, zum Beispiel aus den Wahrscheinlichkeitsverteilungen der CMIP6 Modell-Simulationen. Das führt dann insgesamt dazu, dass in diesem Bericht sehr differenziert zwischen Aussagen unterschieden wird, die einfach Tatsachen sind, wie zum Beispiel, dass der Mensch der Hauptverursacher für die derzeitige Klimaerwärmung ist, bis hin zu Aussagen, die sehr unsicher sind, wie zum Beispiel der Zeitpunkt, zu dem Kipppunkte im antarktischen Eisschild eintreten werden.
CG: Was ist neu im aktuellen IPCC-Bericht und was ist Deiner Meinung nach der größte Fortschritt gegenüber früheren Berichten?
DN: Rein naturwissenschaftlich ist der größte Fortschritt die Eingrenzung der Klimasensitivität, bei der seit Jahrzehnten versucht wurde, die Bandbreite zu verringern. Das ist jetzt zum ersten Mal gelungen aufgrund der Studien, die in den letzten Jahren veröffentlicht wurden. Was ich aus gesellschaftlicher Sicht wichtig finde und was eigentlich in jedem IPCC-Bericht passiert ist, ist, dass das Vertrauen in zentrale Aussagen aus den früheren Berichten noch einmal gestiegen ist. Also, dass man aus naturwissenschaftlicher Sicht häufig sagen kann, wir sind uns noch sicherer als bisher. Dieses Bestätigen und Stärken von früheren Aussagen ist für mich eigentlich fast das zentralste Element, weil es einfach kommuniziert, wie sicher wir uns sind. Und dann gibt es natürlich noch eine ganze Reihe von Neuerungen, z.B. dass wir methodisch dazu übergegangen sind, die Modelle zu gewichten, je nachdem für wie zuverlässig wir sie halten. Oder auch, dass wir jetzt sehr viel konkretere Aussagen darüber machen können, wie der Meeresspiegel sich langfristig entwickeln wird.
CG: Der Bericht wurde von 195 Nationen abgesegnet und insbesondere die Zusammenfassung für politische Entscheidungsträger wurde ja auch sehr kleinteilig mit den Regierungsvertretern verhandelt. Wie hast Du diese Verhandlungen erlebt?
DN: Das ist ein ganz wichtiger Teil des Prozesses, dass es am Ende ein Bericht ist, der aus der Wissenschaft kommt, dem aber alle Regierungen zustimmen, weil sie diesen ja auch beauftragt haben. Deshalb wird die Zusammenfassung für politische Entscheidungsträger in einem zweiwöchigen Prozess Satz für Satz durchgegangen und sichergestellt, dass der Inhalt für alle anwesenden Regierungen akzeptabel ist. Das gestaltet sich im Detail so, dass man über einzelne Sätze teilweise fast den gesamten Zwei-Wochen-Zeitraum diskutiert und Kompromisse findet, damit Regierungsvertreter:innen von einzelnen Ländern, die möglicherweise Vorbehalte haben, dann auch noch zustimmen können. Dabei ist unsere Rolle aus der Wissenschaft bei diesem Verhandlungsprozess sicherzustellen, dass alles, was am Ende in der Zusammenfassung steht, komplett konsistent ist mit der Wissenschaft, die wir im Hauptbericht vorgelegt haben. Es gibt aber durchaus Spielräume, was man kommuniziert und wie es kommuniziert wird, z.B. wie differenziert man auf andere Treibhausgase eingeht und ob man für das 1,5-Grad-Ziel eher den Schwerpunkt bei den historischen CO2-Emissionen setzt oder bei denen, die wir noch zur Verfügung haben. Das ist dann im Prinzip ein diplomatisches Aushandeln zwischen den Regierungsvertreter:innen, bei dem wir die naturwissenschaftliche Richtigkeit sicherstellen.
CG: Gab es Bestrebungen, die Formulierungen der Wissenschaftler aufzuweichen oder eigene politische Interessen durchzusetzen?
DN: Ja, ich glaube, das gibt es in beide Richtungen. Was auch nachvollziehbar ist, schließlich ist es die Rolle von Diplomat:innen für ihre jeweiligen Länder zu schauen, dass die Regierungen am Ende dem Text auch zustimmen können. Insgesamt ist trotzdem meine Einschätzung, dass die Zusammenfassung durch diese zweiwöchigen Verhandlungen nochmal deutlich stärker geworden ist. Weil auch deutlich wurde, wo Knackpunkte sind und wo wir wirklich ganz präzise formulieren müssen, um sicherzustellen, dass das, was wir sagen wollen, auch wirklich gehört wird. Es gibt ein paar kleine Stellen, die hinterher ein bisschen komplizierter ausgedrückt worden, als es vielleicht notwendig gewesen wäre. Aber das Interessante ist, dass es natürlich diese Bestrebungen einzelner Länder gibt, dass es aber nicht möglich ist, irgendwelche Extrempositionen durchzusetzen, weil andere Länder dann dementsprechend versuchen, das zu verhindern. Am Ende ist es der Versuch, einen diplomatischen Kompromiss auszuhandeln, mit dem alle Länder gut leben können. Darum sehe ich auch keine Gefahr, dass irgendwelche Aussagen stark verwässert werden, weil es immer auch einzelne Länder gibt, die entsprechend dagegen halten.
CG: Aktuell findet ja auch der 26. UN-Klimagipfel in Glasgow statt. Welche Rolle spielt der neue IPCC-Bericht für diese Konferenz und die Entscheidungen, die dort getroffen werden?
DN: Ich hoffe eine sehr zentrale Rolle. In dem Sinne, dass man diesen Bericht, dem ja alle Regierungen zugestimmt haben, als Grundlage für die diplomatischen Verhandlungen in Glasgow nehmen kann und die Dinge, die im Bericht stehen, nicht mehr hinterfragen muss. Also z.B. was passieren muss, um das 1,5-Grad-Ziel einzuhalten, die Tatsache, dass wir Menschen hauptverantwortlich sind für den Klimawandel etc. Der Bericht liefert im Prinzip die Leitplanken, innerhalb derer jetzt die politischen Verhandlungen in Glasgow stattfinden können. Und ich würde hoffen, dass durch diese Leitplanken, die der IPCC-Bericht vorgibt, die Verhandlungen einfach zielführender sein können.
CG: Zum Ende vielleicht noch ein persönliches Fazit: Was hast Du für Dich aus dem IPCC-Prozess mitgenommen?
DN: Ich finde, das immer wieder Beeindruckende und Schöne an diesem Prozess ist, dass er noch einmal unterstreicht, wie die Wissenschaft es schafft, sich wirklich als völkerverständigendes, ländergrenzenüberschreitendes Netzwerk konstruktiv zu gestalten. Dass in dem gesamten IPCC-Wissenschaftsprozess einzelne Länderinteressen keine Rolle spielen, sondern wir einfach auf Augenhöhe miteinander kommunizieren konnten. Und wir diesen Blick hatten, dass es die eine Wissenschaft, die eine Welt gibt, die wir versuchen im Bericht zu beschreiben. Damit ist der IPCC-Bericht für mich eigentlich ein Vorbild dafür, wie es vielleicht in einer idealen Welt auch in politischen Verhandlungen ablaufen würde. Dass man die eigenen Interessen zurücknimmt, weil man sich der gemeinsamen Verantwortung bewusst ist. Dass einzelne Länder es schaffen, sich darüber klar zu werden, dass es am Ende darum geht, die ganze Welt vor den schlimmsten Auswirkungen des Klimawandels zu bewahren. Und damit Interessen einzelner Länder eigentlich eine deutlich geringere Rolle spielen sollten, als sie es in der Praxis häufig tun. Der IPCC-Prozess könnte eigentlich ein wunderbares Vorbild dafür sein, wie das funktionieren kann.
CG: Das ist ein schöner Schlusssatz. Allerletzte Frage: Würdest Du es wieder machen?
DN: Ich glaube, vielleicht mit ein bisschen Abstand. Im Moment bin ich froh, dass es erstmal vorbei ist. Aber wer weiß, wie es in ein paar Jahren aussieht.
Kontakt
Prof. Dr. Dirk Notz ist Professor für Meereis am Institut für Meereskunde.
Er ist Leitautor des Kapitels über Ozean, Kryosphäre und Meeresspiegel im aktuellen IPCC-Sachstandsbericht.
Céline Gieße ist Doktorandin in den Arbeitsgruppen Klimamodellierung/Meereis und interessiert sich besonders für Klimaveränderungen in der Arktis.